Nationalismus in Tatarstan: Mythos oder Realität?

Wenn die russischen Politiker beginnen, sich zu erinnern, wie "das tschetschenische Problem" aufkam, spricht die Mehrheit von dem "tschetschenischen National-Faktor und der Schwache der korrupten russischen Zentralmacht bei der Neuverteilung der okonomischen Einflussspharen am Anfang neunziger Jahre".
Der Krieg in Tschetschenien oder wie man ihn in Russland nennt, die "antiterroristische Operation" dauert nun schon fast 6 Jahre. In Tatarstan, das seine eigene Unabhangigkeit fast gleichzeitig mit Tschetschenien erklarte, gibt es keinen Krieg. Im Gegenteil, Russlands Prasident Wladimir Putin verhalt sich heute zu Tatarstan mit betonter Achtung, und an die tatarischen National-Radikalen erinnert man sich fast gar nicht. Warum?

Der Anfang
Die Einwohner Kasans erinnern sich noch ausgezeichnet an das Jahr 1991. Da waren riesige Volksmassen auf dem zentralen Platz der Stadt und schrieen "Asatlik!" ("Freiheit!" auf tatarisch). Tagliche Meetings fanden vor dem Gebaude der Regierung Tatarstans statt, bei denen auf Plakaten zu lesen war: "Tatarstan ist ein unabhangiger Staat", "Russen - raus!", "Kinder aus Mischehen - ins Krematorium!". Alte Tatarinnen schlugen mit Stocken die russischen Abgeordneten des republikanischen Parlamentes. Die Miliz griff nicht ein. Am Anfang den neunziger Jahre versuchte "man" den Hass zwischen Russen und Tataren zu kultivieren. "Man", das waren merkwurdigerweise dieselben Leute, die Tatarstan auch heute noch leiten.
Doch sind den 18 gesellschaftlichen tatarischen Organisationen, die vor 10 Jahren registriert waren und mehr oder weniger die nationalstaatliche Unabhangigkeit anstrebten, nur noch 2 oder 3 aktiv. Sogar die traditionell zu allem "Russischen" feindselig eingestellten tatarischen nationalistischen Organisationen aus der Stadt Nabereschny Tschelny zeigen jetzt nicht mehr ihre fruhere Agressivitat. Bedeutet das, dass der Nationalismus verschwunden ist?
Mit dieser Frage habe ich mich an den Leiter des Alltatarischen gesellschaftliches Zentrums (ATGZ) Raschit Jagfarow gewandt.

Nehmt euch soviel Souveranitat, wie ihr konnt
Herr Jagfarow ist der funfte Vorsitzende auf diesem Posten. Er behauptet, die neueste Geschichte der nationalen tatarischen Bewegung habe 1988 angefangen. Damals hatten einige Vertreter der tatarischen Intelligenz beschlossen, eine eigene tatarische Nationale Front zu schaffen, um die autonome Republik (welche Tatarstan damals war) in eine Republik der UdSSR, d.h. unabhangig von der Russischen Foderation, zu transformieren. Aber die UdSSR sei zerfallen und die Schwerpunkte hatten sich verlagert. Vom Alltatarischen gesellschaftlichen Zentrum sei ein radikaler Kurs auf die Errichtung eines vollig unabhangigen Staates genommen worden.
1990 hat Boris Jelzin bei seinem ersten Besuch in Tatarstan als Prasident der RF seine beruhmte Phrase gesagt: "Nehmt euch soviel Souveranitat, wie ihr konnt". Damals hatte das allen gefallen, und Jelzin wurde fur kurze Zeit der geliebte Prasident aller Tataren.
1992 wurde ein Referendum abgehalten, und Tatarstan wurde eine souverane Republik innerhalb Russlands. Aber als die realen okonomischen Veranderungen anfingen und Tatarstan aufhorte, Steuern an das Zentrum zu zahlen und begann, selbstandig mit Erdol zu handeln, da fand Jelzin, dass das Spiel mit der Souveranitat Moskau teuer zu stehen komme. Es begannen die unendlichen Verhandlungen uber die Kompetenzverteilung zwischen Russland und Tatarstan (Aussenhandel, Gerichte, Steuern, Budget, Erziehung, militarische Anlagen, etc.). Seitens der Nationalen setzten Anschuldigungen an Jelzin ein, er wolle Tatarstan zu einer Kolonie degradieren.Das Ergebnis der Streitigkeiten war die Unterzeichnung eines Vertrages uber die Abgrenzung der Rechte und Kompetenzen zwischen Russland und Tatarstan im Jahr 1994; er ist seither das grundlegende Dokument bei der Losung aller Streitfragen zwischen Moskau und Kasan.
Als Moskau auf seiner Sicht der Dinge bestand, gingen bis zur Unterzeichnung des Vertrages Tausende auf die Strasse. Sie schrieen "Asatlik!", verbrannten die russischen Fahnen und zertrampelten das russische Wappen. Der Prasident Mintimer Schajmijew behinderte solche Demonstrationen nicht, da sie doch der Ausdruck "des Willens des tatarischen Volkes" waren. Nebenbei bemerkt bekamen die lokalen unabhangigen Zeitungen aus inoffiziellen Quellen andere Informationen: wem man wie und wieviel fur die Organisation solcher Meetings bezahlte. Nach den Demonstrationen ging Moskau auf die geforderten Kompetenz-Zessionen (so bei der Ausbeutung der Erdolvorkommen) ein. Prasident Schajmijew konnte so politische Pluspunkte sammeln.

"Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan..."
Dieses Spiel fand ein Ende, als der Tschetschenienkrieg anfing. Jelzin gab zu verstehen, dass er Tatarstan keine Zugestandnisse mehr machen wird. Daraufhin wandte sich Schajmijew brusk von den Nationalen ab. Nationalistische Aktionen in Kasan horten fast auf, da die okonomischen und politischen Ziele, die die Leitung Tatarstans verfolgte, bereits erreicht waren. Schajmijew besass die uneingeschrankte Macht in der eigenen Republik und durfte uber ihre Ressourcen verfugen, wie er wollte. 1996 wurde er zum zweiten Mal zum Prasidenten gewahlt. Die Macht mit den gestrigen Alliierten zu teilen hatte er nicht mehr notig.
Dann hat sich das Zentrum der nationalen Bewegung in die Stadt die Nabereschny Tschelny verschoben, wo der Leiter der Stadtverwaltung Rafgat Altinbajew seine eigenen ehrgeizigen Plane schmiedete. Doch 1998 erlitt er eine vernichtende Niederlage auf der Tagung des republikanischen Parlamentes. Als er danach gegen den Willen von Schajmijew seine eigene Kandidatur fur den Posten des Ministerprasidenten der Republik vorschlug, wurde er jedoch nicht gewahlt.
Diese gescheiterte Rebellion brachte den Prasidenten Schajmijew derart in Rage, dass er mit Prasidentenerlassen alle Bezirksleiter sowie alle, die irgendwie mit Altinbajew sympathisiert hatten, ihres Amtes enthob. Zusammen mit Altinbajew bekamen auch die Nationalisten, die von ihm gedeckt worden waren, grundlich etwas ab. Die Nationalisten hatten endgultig aufgehort, den Prasidenten zu interessieren. Ihre Kundgebungen waren nun nicht mehr Willkommen. Der republikanische KGB, der sich faktisch unter Schajmijews Kontrolle befindet, sah Tatarstan auf die Finger, so bei humanitaren Lieferungen und bei den engen Kontakte, die die tatarischen Nationalisten mit Dudajew, Bassajew und Maschadow unterhielten. In Tatarstan wurde sogar eine offizielle Vertretung Tschetscheniens eroffnet. Das Image "Vater der tatarischen Nation" und gewisse Sympathien fur tschetschenische Politiker zwangen moglicherweise Schajmijew, die tschetschenischen Separatisten zu unterstutzen. Aber nicht lange.
Am Anfang der zweiten tschetschenischen Kampagne (1999) und dem Machtantritt Putins haben die Beamten Tatarstans die tschetschenische Vertretung ohne offizielle Angabe von Grunden rasch geschlossen.

Ergebnisse und Perspektiven
"Mit Putins Machtantritt und seiner Politik der Reichzentralisation ist es nur eine Frage der Zeit, wann Schajmijew unsere Hilfe wieder notig hat", erklart Herr Jagfarow, "und wir werden ihm gewiss helfen, weil die Existenz unserer Republik und die Unabhangigkeit Tatarstans in Gefahr sind. Wir mussen um unsere Freiheit kampfen". Aber wie? Als realen Schritt beabsichtigen die tatarischen Nationalpatrioten, demnachst einen allgemeinen Kongress abzuhalten. Doch von einem "zweiten Tschetschenien" ist auf keinen Fall die Rede.
"Das tatarische Volk hat eine andere nationale Psychologie. Wir sind nicht so feindselig wie die Tschetschenen und haben auch nicht den grausamen Brauch der Blutrache", erklart der Vorsitzende des ATGZ. "Wir werden uns nicht mit den Russen schlagen".
Was haben die Apologeten des tatarischen unabhangigen Staates in den 10 Jahren der Souveranitat real erreicht? Auf diese Frage zogert Herr Jagfarow mit seiner Antwort. Es gebe vielleicht gewisse Fortschritte in der Bildung und Entwicklung der nationalen tatarischen Kultur. Die Tataren hatten angefangen, mehr uber ihre eigene Geschichte nachzudenken. Aber das Lebensniveau der Mehrheit der Burger Tatarstans hatte sich mit der Souveranitat nicht verbessert. Im Gegenteil, wer arm lebte, wurde, unabhangig von der Nationalitat, noch armer. Die Russen in Tatarstan bilden fast die Halfte der Bevolkerung. Neid aus nationalistischen Grunden ihnen gegenuber gebe es nicht, da alle gleich arm seien.
"Aber ja, wir sind zufrieden, dass die Mehrheit der Regierungsposten jetzt von Tataren besetzt ist", sagt Herr Jagfarow. "Aber sie haben kein Interesse an der Entwicklung des tatarischen Selbstbewusstseins, der Bildung und Kultur des eigenen Volkes. Sie sind genau solche Gauner wie die Beamten in Moskau. Sie denken nur an ihren eigenen Geldbeutel".

Die Hoffnung stirbt zuletzt
Der Traum von der staatlichen Unabhangigkeit des tatarischen Volkes, die die Tataren vor ca. 450 Jahren nach der Eroberung des Kasaner Khanates durch den Zaren Johann IV den Schrecklichen verloren hatten, scheint nur ein ewiger Traum zu bleiben. Die Republik Tatarstan liegt mitten in Russland und hat keine gemeinsamen Grenzen mit anderen Staaten. Dennoch schwindet bei den Fuhrern der nationalen Bewegung die Hoffnung nicht. Der erste Vorsitzende des ATGZ Marat Muljukow sagte dazu: "Falls sich unser Volk wirklich eint und seine Unabhangigkeit fordert, wird uns das Nichtvorhandensein eines unabhangigen angrenzenden Staates nicht aufhalten konnen. Schliesslich haben wir den Fluss Wolga, und der mundet ins Kaspische Meer. Wir konnen die Grenze dem Fluss entlang ziehen."
In einem hatte Herr Muljukow recht: Die Wolga mundet wirklich ins Kaspische Meer. Das weiss in Russland jeder Schuler. Sie fliesst schon annahernd 30000 Jahre dorthin - seit der letzten Eiszeit. Was sind schon 450 Jahre im Vergleich damit? Die Hoffnung wird ewig leben.

© Cosmopolis, vom 7. August 2001
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