Zwischen Mitgefühl und Schadenfreude
AUF DER STRASSE IN RUSSLAND SIND DIE REAKTIONEN GETEILT
Jahrzehntelang ist Amerika in Russland als Feind Nummer eins dargestellt worden. Dieser habe nun einen Denkzettel verpasst bekommen, sagen nicht wenige Russen. Trotzdem zeigen auch auf Russlands Strassen die meisten Mitgefühl mit den Terroropfern. Verbreitet ist Angst vor einem Krieg.
KASAN. Bekanntlich hat der russische Präsident Wladimir Putin am 11. September dem Volk Amerikas als erster sein Beileid ausgedrückt. Und am 13. September ist in ganz Russland eine Trauer-Minute vergangen. Patriarch Alexij der Zweite, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, hat fur die Opfer der Tragödie eine eigene Messe gehalten. Auch alle folgenden Erklärungen von Politikern Russlands, einschliesslich Wladimir Schirinowskij oder Gennadij Süganow, waren eindeutig: Terrorismus ist eine absolute Gemeinheit, die man zusammen bekämpfen muss. Doch was sagen einfache Menschen in Russland, wie hat man auf die furchtbaren Ereignisse ausserhalb Moskaus reagiert?
In Tschetschenien hat die Nachricht über den Terror in der USA unter den Separatisten stürmische Freude ausgelöst. Mit Leuchtspurmunition haben sie in der Nacht Freudenfeuerwerk veranstaltet.
In Tatarstan ist die Situation anders. Die Republik, in der Menschen verschiedenster Nationalitäten und Glaubensrichtungen, schon fast 450 Jahre in Frieden leben, kümmert sich zwar - mit Ausnahme der Offiziellen - auch nicht um Putins Haltung. Doch auf der Strasse ist viel Mitgefühl zu spüren. Vor Freude hat jedenfalls niemand in die Luft geschossen.
Russen, Tataren, Ukrainer, Juden, Tschuwaschen, Kasachen, Udmurten, Gläubige und Atheisten: die allermeisten bedauern, dass beim Angriff der Terroristen unschuldige Leute umgekommen sind. Aber es gibt auch Stimmen, die offen sagen: "Endlich hat Amerika eine Lehre erhalten".
„Gott sei Dank! Das ist die Bestrafung wegen Hiroschima, Vietnam und Jugoslawien", sagt Elena Iwanowna, eine Hausfrau auf dem Weg zur Stadt-Markt (Basar).
„Ich weiss, es war eine scheussliche Aktion", sagt Busfahrer Ildar, „aber jetzt, wo die Amerikaner sehen mussten, wie friedliche Leute umgekommen sind, werden sie vielleicht begreifen, dass sie Unrecht hatten, anderswo für ihre politischen Ziele Bomben abzuwerfen".
Eine Schulerin erzählt von der Schweige-Minute im Schulhaus. „Alle waren ruhig. Aber warum soll ich um die Toten in New York trauern? Sie haben ja auch keine Trauerminute eingeschoben nach dem Kursk-Unglück oder als vor zwei Jahren Tschetschenen in Moskau Wohnhäuser gesprengt haben".
Eine Leserbriefschreiberin schrieb in der Lokalzeitung "Kasan am Abend": Ihr 9-jähriger Sohn sei im Schock aus der Schule nach Hause gekommen. Die Hälfte seiner Klasse habe in die Hände geklatscht und Hurra geschrien, als sie von den Ereignissen in Amerika erfahren haben. Der Sohn habe darauf gefragt: "Mami, warum? Es sind doch Menschen umgekommen!" Sie wusste keine Antwort. Sie konnte nur vermuten: „Vielleicht liegt ein Grund darin, dass es zu vielen Menschen bei uns schlecht geht. So kann sich Bösheit ansammeln".
Unterdessen ist das erste Entsetzen, sind erste auch schadenfreudige Reaktionen gewichen. Nun dominiert die Angst vor möglichen Rache-Aktionen der USA. Raschid Hajbullin, ein Lehrer, fasst die Besorgnis vieler zusammen: "Gegen Terrorismus muss man zusammen kämpfen. Aber die Amerikaner waren immer überheblich und könnten auch jetzt einen neuen Krieg anzetteln". Wie hat Putin doch erklärt? "Die Ereignisse in den Vereinigten Staaten haben den Rahmen nationaler Grenzen gesprengt. Es ist ein Angriff auf die ganze Menschheit - wenigstens auf die zivilisierte Menschheit". „Das trifft zweifellos zu", sagt Hajbullin, „doch wer bestimmt nun wie die Grenzen der zivilisierten Welt?"
© Thurgauer Zeitung ( tol.ch TURGAUONLINE)