Tradition stärker als Kapitalismus
Um in Tatarstan als Geschäftsmann erfolgreich zu sein, muss man ein Verwandter
des Präsidenten sein.

Von Hans-Martin Brandt (TA)
und Alexei Djomin, Kasan*

Nach sechs Jahren und umgerechnet fünf Millionen Franken Verlust gab Jürgen Ölker auf. Der deutsche Unternehmer hat keine Lust mehr, in Tatarstan Geschäfte zu machen. Denn, so bestätigen auch andere verprellte Investoren, Business in Tatarstan ist für Ausländer schwierig und sogar gefährlich.

Ölkers Schicksal ist beispielhaft. Mit seiner Kasan, einem Joint Venture mit lokalen Partnern, wagte er sich ausgerechnet in den Strassenbau, eine Branche, in der in Tatarstan ganz besondere Regeln gelten. Zwar meinte Ölker, exzellente Kontakte zur Regierung zu haben. Der Transportminister Wladimir Schwezow, der zudem noch einer der vier Vizepremiers von Tatarstan ist, hatte dem deutschen Geschäftsmann immer wieder grosszügige Zusagen gemacht. Doch am Ende bezahlte das Strassenkomitee die von Kemna Consult geleisteten Arbeiten nicht. So war Ölker gezwungen, seine Anteile an dem Unternehmen zu verkaufen. An wen? Die Antwort bleibt vage: "An einen Bürger von Tatarstan."

Alle Versuche, offiziell zu bestätigen, wer der neue Eigentümer der Firma ist, blieben erfolglos. Doch eigentlich ist die Antwort leicht zu erraten. Seit Jahren beherrscht das Unternehmen "Strassenservice" als Monopolist den Strassenbau in Tatarstan. Generaldirektor dieser Firma ist Ajrat Schajmijew, ein Sohn des Präsidenten Mintimer Schajmijew. Und Transportminister Schwezow wiederum ist ein enger Freund des Präsidentensohns.

Während Ajrat Schajmijew beim Strassenbau den Ton angibt, sitzen weitere Familienmitglieder des Präsidenten in anderen Schlusselpositionen in Wirtschaft und Verwaltung. Ob in Bäckereien, Erdölfirmen oder Regionalverwaltungen - dort lenkt ein Sohn, dort ein Neffe, hier ein Schwager, dort eine Schwester die Geschicke wichtiger Institutionen. Direkt oder indirekt kontrollieren Mintimer Schajmijews Verwandte nach Einschätzung von Experten etwa 70 Prozent der Volkswirtschaft Tatarstans.

Am auffalligsten ist das Treiben des jungsten Präsidentensohnes, Radik Schajmijew. Ihm gehoren fünf Prozent von Tatneft, der grossten Erdölgesellschaft der Republik. Tatarstans Erdölreserven werden auf 841 Mrd. Tonnen geschätzt. Jährlich wird Öl im Wert von etwa 290 Millionen Franken verkauft. Damit verdient Tatarstan ein Drittel seines Staatseinkommens. Doch die Summen, die unversteuert bleiben, ubersteigen diese Betrage um ein Vielfaches.

Nach Informationen der Moskauer "Neuen Zeitung" werden jährlich bis zu zwei Millionen Tonnen Erdöl uber die in Österreich eingetragene Firma Nira-Export an den Steuerbehörden vorbei exportiert. Das Öl wird in Russland günstig eingekauft, wobei das Unternehmen von grosszügigen Steuervorteilen in Tatarstan profitiert. Nach dem Verkauf in Österreich bleiben die Gewinne auf ausländischen Konten. Nira-Export gehört laut der Zeitung der Familie Schajmijew.

Clan-Wirtschaft ohne Ende?
Jürgen Ölker macht sich kaum Hoffnung, dass andere Geschäftsleute aus dem Westen es in nächster Zukunft leichter haben werden in Tatarstan, einer der 89 Regionen Russlands. Zwar verspricht der liberalere Erste Vizepremier Rawil Muratow Reformen von Verwaltung und Geschäftspraktiken. Zusammen mit Experten der Universität Oxford hat Muratow einen aufwändigen Entwicklungsplan für die Republik vorgelegt. Das stiess sogar in Moskau auf Lob, geändert hat sich jedoch nichts. Vielmehr wurde Schajmijew bei Wahlen mehrfach im Amt des Präsidenten bestätigt. Sein Zugriff auf das Wirtschaftsleben wird sich also kaum lockern.

So ist zu befürchten, dass das "System Schajmijew" noch mindestens eine Generation weiterbestehen wird. Dazu erzahlt man sich in Kasan einen Witz. Ein grosszügiges Angebot aus Moskau habe Schajmijew mit Bedauern abgelehnt, heisst es. "Ganz Russland kann ich nicht regieren", soll Tatarstans Präsident gesagt haben. "Dafür habe ich nicht genug Verwandte."

* Alexei Djomin ist Arzt und freier Journalist. Er verbrachte im Jahr 2000 einige Monate beim Winterthurer "Landboten". Für seine Artikel aus dieser Zeit erhielt er den Zürcher Journalistenpreis 2001.

STICHWORT
Tatarstan ist beispielhaft für viele Regionen des heutigen Russland: Zehn Jahre nach dem Ende der Sowjetunion sitzen Ex-Kommunisten an der Macht und untermauern diese mit Vetternwirtschaft und Korruption. Tatarstan erklärte sich 1990 in den Wirren nach dem Zerfall der Sowjetunion zur unabhängigen islamischen Republik. 1994 schloss es sich zwar wieder der Russischen Foderation an, doch das Verhältnis zu Moskau bleibt zwiespältig. Das weiss Präsident Mintimer Schajmijew, der ehemalige Kommunistenchef der Region, zum eigenen Vorteil zu nutzen. Die Bevölkerung von etwa vier Millionen, von denen ein Viertel in der Hauptstadt Kasan lebt, besteht zu fast gleichen Teilen aus Tataren und Russen. 26 Prozent des russischen Erdöls werden in Tatarstan gefordert. (TA)

© Der Tages-Anzeiger am Montag, 18.3.2002


 










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